Ein schwieriger Balanceakt: Die Nahrungssysteme überdenken
Haben wir uns schon einmal überlegt, wie die Lebensmittel, die wir jeden Tag konsumieren, auf unseren Teller kommen? Es gibt diverse Glieder innerhalb des Prozesses, die Auswirkungen auf die Umwelt sowie auf die Gesundheit der Menschen haben. Wie funktionieren diese Nahrungssysteme? Und ist es vielleicht an der Zeit, sie zu erneuern, um das Gleichgewicht in der Umwelt und unserer Ernährung beizubehalten?
Lesezeit: ca. 6 Minuten
Nahrungssysteme berücksichtigen die verschiedenen Facetten der Lebensmittelkette und der menschlichen Ernährung, wie etwa “den Anbau, die Ernte, die Verpackung, die Verarbeitung, den Transport, die Kommerzialisierung und den Konsum der Lebensmittel1“. Zudem umfassen sie die Dynamik zwischen den Menschen und der Umwelt, also wie der Boden genutzt und beeinträchtigt wird, die Bewässerungssysteme, klimatische Bedingungen und auch, wie die Umwelt die Gesundheit und Ernährung der Menschen beeinflusst. Das Konzept geht noch weiter bis hin zu Verbrauchsmaterialien, Institutionen, Infrastruktur, aber auch Diensten, dem Umgang mit den Lebensmitteln und der Art der Kultur, welche die zuvor genannten Aspekte mitträgt. Wenn wir von nachhaltigen Nahrungssystemen sprechen, beziehen wir uns darauf, dass die bereitgestellten Lebensmittel nährreich sein müssen, so wenig wie möglich die Gesundheit des Planeten beeinträchtigen dürfen und dass die kommenden Generationen „ihre eigenen Bedürfnisse an Lebensmitteln und Nahrhaftigkeit stillen können2“.
Doch wie sieht die aktuelle Situation der Nahrungssysteme aus? Bereits seit einigen Jahrzehnten wurde ein vermehrter Druck auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen festgestellt. Nahrhafte Kost ist weiterhin kostspielig, gleichzeitig ist die Ernährung, die reich an Zusatzstoffen, Natrium und Zuckerzusätzen (und normalerweise leichter erhältlich) ist, die Ursache für ernsthafte Gesundheitsprobleme und ein Risikofaktor in der Sterbe- und Morbiditätsrate, und zählt bereits elf Millionen Tote. Um Lebensmittel auf den Tisch zu bringen, wurde die Umwelt geschädigt und zum Klimawandel beigetragen durch Abholzung, Verlust der Biodiversität, Erosion und anderes mehr, um Platz zu schaffen für mehr Anbauland und Weiden für das Vieh. Sehen wir uns mal an, wie diese Aspekte insbesondere durch Schwachstellen in den Nahrungssystemen betroffen sind3.
Die menschliche Ernährung wurde besonders beeinträchtigt durch den Wandel, den diverse Teile des Planeten durchgemacht haben, hin zu industrialisierten und verstädterten Gesellschaften. Traditionelle Kost wurde ersetzt durch Ernährung, die viel Natrium, Fette und Zucker enthält, zudem ist der Fleischkonsum gestiegen und beim heutigen Lebensstil sitzt man viel. Dies alles hat den Weg geebnet für eine „doppelte Last der Fehlernährung“, die in den Teilen der Bevölkerung besteht, die von der Unterernährung beeinträchtigt sind und auf der anderen Seite von Problemen der Fettleibigkeit. Die chronische Unterernährung hat in den 1990er Jahren um 20% abgenommen, allerdings ist diese Tendenz in den vergangenen Jahren nicht weitergeführt worden. In Ecuador leidet eins von vier Kindern an chronischer Unterernährung. Die akute Unterernährung verbleibt unverändert. Seit den 1980er Jahren haben sich Übergewicht und Fettleibigkeit in der weltweiten Bevölkerung verdoppelt und sie übertrifft dabei die Anzahl der Bevölkerung, die untergewichtig ist oder ein normales Gewicht hat4.
Der Zusammenhang zwischen den Nahrungssystemen und der Umwelt geht in beide Richtungen. Die Nahrungsmittelproduktion wird durch den Klimawandel beeinträchtigt. Laut dem Bericht des Weltklimarats (IPCC) von 2021 erzeugt die Zunahme der weltweiten Durchschnittstemperatur von über 1,1°C, die bereits gemessen wurde, Zerstörung in der Atmosphäre, was Extremsituationen wie Trockenheit und Niederschläge mit sich bringt und auf diese Weise die Anbauzeiten, die Artenvielfalt und Anwendung von Wasser beeinflusst, was sich in der Ernte widerspiegelt5. Gleichzeitig sind der Ausstoß von Treibhausgasen, die durch die Landwirtschaft und den Lebensmitteltransport freigesetzt werden, sowie die Zerstörung der Bodeneigenschaften durch den Gebrauch von Chemikalien einige der Folgen einer kaum nachhaltigen Handhabung der Nahrungssysteme. Dazu ist zu erwähnen, dass die Situation, welche durch die COVID-19-Pandemie entstanden ist, die bereits bestehenden Herausforderungen verschärft hat, wo aktuell drei Milliarden Menschen keinen Zugang zu einer nahrhaften Ernährung haben; zudem sind durch die Änderungen in den Nahrungssystemen Infektionskrankheiten entstanden6.
Es ist deutlich, dass durch die Existenz dieser Unausgeglichenheit zwischen Ernährung und Produktion der Lebensmittel eine Veränderung notwendig wird. Wie könnte diese aussehen? Der Schlüssel liegt darin, angemessene Ebenen der Verfügbarkeit, Zugang, Erschwinglichkeit und Erwünschtheit zu erreichen. Die Verfügbarkeit von Lebensmitteln, die reich an Nährstoffen sind und auf nachhaltige Weise angebaut werden, muss garantiert sein. Menschen müssen Zugang zu Lebensmitteln haben, egal wo sie leben oder was ihr sozioökonomischer Status ist. Während die Lebensmittel in der Lieferkette noch einfacher transportiert werden, nehmen die Kosten ab, der Zugang verbessert sich und es werden Abfälle vermieden. In der Aktualität gehen 9 bis 20% der Lebensmittel vom Moment der Ernte an und während des Transports in der Lieferkette verloren. Die Kosten einer gesunden Ernährung müssen abnehmen, da sie mit billigeren und länger haltbaren Lebensmitteln in den Regalen konkurrieren, aber sie sind übermäßig verarbeitet, reich an Natrium und Fetten sowie zugefügtem Zucker. Und zuletzt gibt es die Erwünschtheit, die Informationskampagnen und Ermächtigung der Konsumenten benötigt, damit diese die gesündere und nachhaltige Ernährung vorziehen7.